Auf einmal wollen alle tilgen – Wie Süddeutsche, Frankfurter Allgemeine, ZEIT und Steuerzahlerbund von der Tilgungsdebatte erfasst werden

Es ist erst ein gutes Jahr her, da galt Atomkraft noch als Zukunftstechnologie, Mindestlohn als kommunistische Verschwörung und Tilgung von Staatsschulden als von Soziologen und Literaturwissenschaftlern verbreitete Utopie. Der erste Vorschlag in Deutschland dazu erschien am 31. August 2010 auf philosophieundwirtschaft.

„Sind Sie verrückt?“ , fragte die FTD den Ersttilger Jochen Hörisch. Auch ZEIT, Süddeutsche und FAZ taten sich in der redaktionellen Ablehnung von Berechnungen und Tilgungsvorschlägen hervor.

Als der Mannheimer Literaturwissenschaftler Hörisch, Spezialist für theologische Motive in der Wirtschaft, Frank Schirrmacher im Herbst 2010 schrieb, dass er sich aus philosophischen Gründen zur Tilgung der Staatsschulden entschlossen habe, antwortete Schirrmacher nicht. Nun nimmt er eben dieses Motiv in seiner Rezension von von David Graebers Buch: „Debt. The First 5000 Years” auf und endet mit folgendem Fazit:

Aber längst ist jeder Bundesbürger verschuldet. Längst hat diese Schuld zu einem autoritären Zuwachs des Staates geführt, der jetzt zunehmend unkontrolliert Opfer verordnen kann und vor allem wird. Noch haben die meisten Deutschen offenbar das Gefühl, dass sie die Schulden abbezahlen können. Ändert sich dies, ändert sich alles.

Es scheint, als hoffe Schirrmacher wie andere, persönlich von einer Vermögensabgabe Bedrohten auf ein mystisches Wunder („ändert sich alles“), das ihnen das Opfer erspart, das sie „dem Staat“ bringen sollen. Dass sie selbst der Staat sind, ist noch immer nicht angekommen. Schirrmacher ist noch Prä-Kantianer.

Ähnlich in der ZEIT: Nachdem ZEIT-Herausgeber Helmut Schmidt, Giovanni di Lorenzo sowie Uwe Jean Heuser, Leiter der Wirtschaftsredaktion, es über ein Jahr abgelehnt haben, auch nur über die Tilgungsinitiative zu berichten, veröffentlichte die ZEIT auf einmal ein Plädoyer für ein Lastenausgleichsgesetz mit einer Vermögensabgabe. Autor war der emeretierte Volkswirtschaftsprofessor Harald Spehl. Versuche, den Artikel zu kommentieren und auf die von der ZEIT unerwünschte Tilgungsinitiative wenigstens in der Diskussion hinzuweisen, endeten allerdings mit sofortiger Löschung (Kommentar 63):

Auch die Süddeutsche weigerte sich bisher, Zahlen zum Verhältnis von Staatsschulden und Vermögen zu veröffentlichen. Den Wirtschaftschefs Nikolaus Piper, Marc Beise und dem Berlin-Chef Claus Hulverscheidt erschien dieses Zahlenwerk bisher als linkssozialistische Propaganda. Staatsschulden und Privatvermögen in einen Zusammenhang zu setzen, gilt noch immer als unzulässiger, vor allem aber unqualifizierter Vergleich.

Doch ausgerechnet der Süddeutschen gab am 14.11. 2011 die Wirtschaftsweise Beatrice Weder di Mauro ein Interview. Den überraschten SZ-Volkswirten offenbarte sie, dass man einen europäischen Schuldentilgungsfonds benötige und dann der Clou:“Zum Beispiel müssen die Staaten eine Steuer zur Tilgung benennen.”

Lastenausgleichgesetz in der ZEIT, Tilgungssteuer in der Süddeutschen, Entschuldungsmystik in der FAZ – es scheint, als sei die Diskussion um die Staatsschulden endgültig von einer ökonomischen Fachdiskussion um die richtige BIP-Akrobatik zu einer politisch-theologischen Volksdiskussion geworden.

Auch der EURO am Sonntag und die Wirtschaftswoche möchten die Tilgungsdebatte nicht ganz verschlafen.

Die Boston Consulting Group (BCG), deren Sachverstand Deutschland wesentlich die Verluste in der Finanzkrise 2008 zu verdanken hat  , ruft nun selbst zu einer Vermögensabgabe auf.

Sogar der Bund der Steuerzahler hat inzwischen Zinsen neben Klohäuschen und Autobahnbrücken als Teil des verschwenderischen Umgangs mit Steuermitteln entdeckt und eine erstaunliche Erklärung für die Staatsverschuldung veröffentlicht:

„Wenn die Einnahmen, vor allem die Steuern, nicht ausreichen, die Ausgaben zu decken, entscheiden sich viele Politiker dafür, Schulden zu machen.“

Dass Staatsverschuldung überhaupt etwas mit Steuereinnahmen zu tun hat, ist für den Bund der Steuerzahler eine neue Erkenntnis. Bisher glaubte er, die zu hohen Ausgaben für Klohäuschen seien das Hauptproblem.

Nur in den Parteien ist die Tilgung durch Vermögenssteuern und Lastenausgleich noch nicht angekommen. Zu groß ist ihre Sorge, ein schmerzhafter Tilgungsplan könne sie 10 Prozent kosten.

Das Fehlen eine solchen Planes, werte Politiker und Bürger, kann 100 Prozent kosten.