Hilfe, Deutschland wird ein Philosophenstaat! Wie Philosophen sich in die deutsche Gesellschaft einmischen

Am 9. Dezember 2011 an der Tankstelle. Mein Blick fällt auf die Titelseite der City-Bild: „Deutschlands bekanntester Philosoph: Rentner sollen soziales Pflichtjahr machen.“ Natürlich kaufe ich die Ausgabe. Auf Seite 21 erfahre ich, dass Rentner auf Kleinkinder aufpassen und Migranten Deutsch-Unterricht erteilen könnten. Als Sozialkapitalmissionar freue ich mich natürlich über alles, was aus der Schuldenspirale führt. Der Vorschlag könnte allerdings auch von Rita Süssmuth oder Frank Schirrmacher stammen. Das Besondere ist aber, dass Bild ausdrücklich erwähnt, dass er von einem, von dem deutschen Philosophen stammt: Richard David Precht.

Seit Jahrzehnten gelten Philosophen augenzwinkernd als ausdrücklich zuständig für das Unpraktische und Unnütze. Die von ihnen in homöpathischen Dosen verabreichten Reflexivitäten dienen bisher in Curricula weiterführender Schulen der Erinnerung daran, dass Deutschland um 1800 als Land der Dichter und Denker galt. Traditionell sind Volkshochschulen und Philosophische Praxen, nicht aber Kabinette und Assessment Centers die Orte der von Entscheidungen entlasteten Philosophiererei. Allenfalls Burn-Out und Krebs bilden in Deutschland selbst in den Hardcore-Kreisen des dialektischen Kapitalismus ernstzunehmende Anlässe des Philosophierens. Finanzkrisen hingegen nicht.

Millionen Menschen suchen nach Orientierung

Der seit längerem intellektuell darbende Stern hat Precht zum Haus- und Hofphilosophenernannt, der als mehrheitsfähiger Weisheitsonkel der risikolosen Selbstreflexion Sätze wie diese von sich gibt: „Heute suchen Millionen Menschen in Deutschland nach Orientierung. Sie machen sich Gedanken um unsere Zukunft und um die Zukunft unserer Kinder.“ Es sind diese Sätze, die andere Intellektuelle ärgern und dazu führen, dass Precht als Medienphilosoph abgetan wird. Aber sie bauen eine Brücke zu einem Publikum, das bisher jeden Kontakt zur Philosophie vermied, da diese wie Violinunterricht als jahrzehntelang zu übende Etude eine unüberwindbare Einstiegsbarriere schuf.

Prechts Vorschlag für das Pflichtjahr der Senioren ist allerdings innerhalb von Stunden derart öffentlich geworden, dass er sicher von Parteien aufgenommen wird. Auch anderen, wie Precht in den 70ern antiautoritär (un)erzogenen Philosophen, ist es jüngst widerfahren, dass ihre Vorschläge unter Erwähnung ihres Namens zu einer Anfrage an die Bundesregierung (S. 22) , zumindest aber zu einem Antrag auf dem Bundesparteitag der Piratenpartei und zu einem Interview im ARD-Morgenmagazingeführt haben.

Drei neue Philosophiezeitschriften

Es sind also nicht die noch immer als Wissensverwalter amtierenden, staatlich bezahlten Philosophieprofessoren, die von dem neuen Interesse profitieren, sondern die Freelancer und Außenseiter, die Dissidenten und Verkannten.

Da passt es, dass gleich drei neue Philosophiezeitschriften an den Kiosk kommen. Printausgaben in einer Zeit, in der jeder Verlagsdirektor mit sinkenden Auflagenzahlen, Kindle und Online-Magazinen zu kämpfen hat? Das Philosophie-Magazin unter Chefredakteur Wolfram Eilenberger ist für 5 Euro 90 erhältlich. Sein Inhalt ist derart beschaulich, dass die Volks- und Raiffeisenbanken ihn bereits auf Seite eins ganzseitig mit einem Motto von Erich Wickert ankündigen: „Die genossenschaftliche Idee ist ebenso einleuchtend wie erfolgreich: Was einer allein nicht schafft, das schaffen viele.“

Daniel Haas hat in der FAZ die massentaugliche Philosophiekost forsch als „Denkfehler“bezeichnet, und das Unpolitische bemängelt. Zu recht. Ich empfehle aber die Investition der 5 Euro 90 allein schon wegen Dieter Thomä’s Gedanken über eine „Welt ohne Väter“ und dem Gespräch zwischen Julian Assange und dem tierethischen Amokläufer Peter Singer.

„Hohe Luft“ , in alter hanseatischer Tradition nach der Adresse benannt („Brand Eins“), beschäftigt gar gleich auf der Startseite einen Blogger namens „Tobias“, was für den Redaktionsleiter Tobias Hürter stehen könnte. Für 8 Euro gibt es „Ein Philosophie-Magazin für alle“ (Zitat), eine Verheißung, die möglicherweise auch abschrecken könnte, da man beim Philosophieren ja eigentlich der einzige, nicht Teil einer Zielgruppe oder Masse sein möchte. Immerhin betätigt sich Hürter auch in Sachen Finanzkrise und zieht folgendes Fazit : „Das ungefähr ist also das Prinzip, nach dem der Kapitalismus funktioniert – hat. Er funktioniert nicht mehr.“ Abgesehen von der Frage, ob Kapitalismus je nach Prinzipien, also nach niedergelegten Vorsätzen funktioniert hat, lässt sich das durchaus diskutieren. Leider hat es zum Zeitpunkt dieses Artikel, am 10. Dezember 2011 noch niemand getan. Wir wünschen natürlich beiden Magazinen, dass der Kapitalismus noch funktioniert, diese also Auto Motor Sport und Cosmopolitan Marktanteile abjagen können.

Das dritte Magazin führt sogar Richard David Precht im Beirat. Es heißt agora 42und ist leider derart unbekannt, dass meine, bereits wenig gelesene und leider inhaltsarme Erst-Rezension vom November 2010 auf Platz 2 bei Google steht. Jüngst regte ein Dr. Herwig Meusburger aus Wolfurt einen Ideenwettbewerb„Wege aus der europäischen Finanzkrise“ unter Schirmherrschaft von IWF und EZB an. Dies passt zum Motto „Ökonomie – Philosophie – Leben“ und der jüngsten, 100 Seiten starken Ausgabe mit dem Titel „Was kostet eigentlich Geld?“. Agora 42 kostet übrigens 7 Euro 90. Sie ist mit etwas Geduld auch als Online-Ansicht auffindbar  und grafisch-ästhetisch sehr anspruchsvoll. Inserenten wie Porsche und Faber-Castell honorieren, dass sich in agora 42 auch ein Vorstandsvorsitzender wie Eckhard Cordes (Metro AG) in alter Olaf-Henkel-Herbert-Henzler-Roland-Berger Tradition über die Reformunfähigkeit Deutschlands beklagen darf. Agora42 richtet sich mehr an Leser in der Wirtschaft – und steht daher den ethischen Wirtschaftsjournalen Brandeins und Enorm näher, als den beiden neuen, populärphilosophischen Journalen.

Philosophen mutieren zu Soziologen

Dass Themen wie Eurokrise, direkte Demokratie, Geld und Generationenvertrag nun in Verbindung mit Philosophie gebracht werden, liegt möglicherweise nicht an einem wachsenden Interesse an der nach wie vor sperrigen und meist hermetisch-autistischen Fachphilosophie, sondern daran, dass postmoderne Philosophen mit einem erstaunten Heureka! die Welt der Gesellschaft entdecken. Sie mutieren damit – ohne es zu wissen – zu Soziologen. Soziologie ist nämlich die Lehre und das Wissen vom Nachbarn (Sozius). Publikum und Medien freuen sich jedenfalls über diese Rückkehr der Philosophie auf die Agora.